Oft wird die Ursache für Gewichtsprobleme im Außen gesucht. Mangelnde Disziplin, ein geschwächter Stoffwechsel oder die genetische Veranlagung sind nur einige Beispiele für die vermeintlichen Übeltäter, die für das ein oder andere Kilo verantwortlich sein sollen. Eine der häufigsten Ursachen für Übergewicht wird dabei oft übersehen: die eigene Psyche.

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Essen ist leider nicht für jeden Mensch reine Nahrungsaufnahme. Bei vielen Menschen stellt Essen ein Ventil für ihre Emotionen dar. Schon als Kind entwickeln wir Methoden, um uns in schwierigen Situationen besser zurechtzufinden. Vielleicht habt ihr schon als Kind gelernt, dass Essen besonders gut hilft, wenn ihr traurig seid, dass es euch von der Angst allein zu sein, ablenkt, die Anspannung nimmt, wenn ihr unter Druck steht, oder eine prima Beschäftigung bei Langeweile ist.

Vielleicht habt ihr aber auch gelernt, dass Essen Familienzusammenhalt oder Belohnung bedeutet. Diese bereits im Kindesalter entstandenen Verknüpfungen führen zu Verhaltensmustern, die wir dann so oft ausführen, bis sie sich tief in unserem Nervensystem verankert haben und zu festen Gewohnheiten heranreifen.

Die Entstehung einer Gewohnheit könnt ihr euch wie bei einem Fluss vorstellen, der sich einen Pfad durch Sandstein bahnt. Je mehr Wasser fließt, desto tiefer wird die Prägung. Umso öfter ihr also aus emotionalen Gründen zum Essen greift, desto tiefer prägt sich dieses Verhaltensmuster in eurem Gehirn ein.

Das Fatale daran ist, dass Gewohnheiten immer unterbewusst ablaufen. Aus diesem Grund hinterfragt ihr die bereits in der Kindheit erlernten Verhaltensmuster nie wieder. Euch ist gar nicht bewusst, dass ihr gar nicht aus Hunger esst, sondern euch gerade nach Liebe, Entspannung, Ablenkung, Geborgenheit oder nach einem Lob sehnt. Essen schmeckt also nicht einfach nur gut, sondern erfüllt für viele von uns noch eine Zusatzfunktion.

Gehörst du zu den emotionalen Essern?

Diese Zusatzfunktion macht es auch so schwer, sich beim Essen zurückzuhalten. In meiner Arbeit erlebe ich es oft, dass meine Klienten sich für undiszipliniert oder willensschwach halten. Diese selbstabwertende Denkweise entsteht, weil sie bisher nicht erkannt haben, dass sie nicht nur auf das Stück Kuchen oder die Pommes verzichten müssen, sondern auch auf die dahinterliegende Zusatzfunktion. Deshalb ist der Fokus meiner Arbeit, neue Verhaltensweisen zu erlernen, die die gleiche Funktion erfüllen, jedoch nicht zu Übergewicht führen. Denn jeder Mensch braucht ein Ventil für seine Gefühle.

Auch Menschen ohne Gewichtsprobleme müssen sich beim Essen mal disziplinieren. Ihnen fällt das jedoch weniger schwer, weil sie nur auf das Essen und nicht noch auf das Ventil ihrer Emotionen verzichten müssen. Wenn meine Klienten sich selbst mal wieder für ihre angebliche Willensschwäche verurteilen, frage ich sie immer, ob es Lebensbereiche gibt, in denen es ihnen leichter fällt, sich zu disziplinieren als anderen Menschen? Oft sind wir für unsere eigenen Stärken blind, denn was uns nicht schwerfällt und keine große Anstrengung verlangt, nehmen wir oft gar nicht als Stärke wahr.

Wie ist das bei Euch? Fällt Euch Zurückhaltung beim Essen schwer, aber ihr seid beispielsweise Gelegenheitsraucher und könnt nicht nachvollziehen, wie jemand morgens als erstes eine Zigarette rauchen muss? Oder könnt ihr Menschen nicht verstehen, die ständig an ihrem Handy sein müssen oder vor dem Rechner Computerspiele zocken? Oder könnt ihr, anders als der ein oder andere Arbeitskollege, auch mal locker auf ein Feierabendbier verzichten?

Ihr seid also nicht einfach nur faul, träge, undiszipliniert oder willensschwach.

Obwohl ihr vielleicht auch gerne einmal eine Zigarette raucht, auf euer Handy schaut oder ein Feierabendbier trinkt, benötigt ihr in diesen Fällen viel weniger Willensstärke, um diesen Impulsen nicht nachzugehen, als beim Essen. So wie ihr euch in solchen Momenten fühlt, fühlen sich Menschen, die nicht aus emotionalen Gründen essen, beim Essen. Diese Dinge sind bei euch einfach nicht emotional verknüpft und deshalb fällt es euch leichter, zu verzichten.

Eine Studie vom bekannten Psychologen Roy Baumeister hat gezeigt, dass wir Menschen pro Tag zwischen drei und vier Stunden damit verbringen, Versuchungen zu widerstehen. In dieser sogenannten Beeper-Studie wurde das Bedürfnis, etwas zu essen, von den Testpersonen am häufigsten genannt. Gleich darauf folgten: das Bedürfnis, zu schlafen, der Wunsch, die Arbeit liegen zu lassen, sexuelle Bedürfnisse und das Verlangen, E-Mails oder soziale Netzwerke aufzurufen. Aber auch den Wünschen, Musik zu hören oder fernzusehen, wurde mehrmals am Tag nicht nachgegangen. An eurer Disziplin und Willensstärke liegt es also nicht. Lass uns also schauen, was ihr tun könnt, wenn ihr zu den emotionalen Essern gehört.

Schluss mit emotionalem Essen

Disziplin und Willensstärke wird euch aufgrund der emotionalen Verknüpfung nicht zum Erfolg führen. Wenn ihr ausschließlich auf diese Eigenschaften setzt, um euer Ziel zu erreichen, werdet ihr sehr wahrscheinlich immer wieder scheitern. Das Scheitern führt dazu, dass ihr euch weiter selbst verurteilt und den Glauben an euch verliert. Diese negativen Gefühle führen dann wiederum dazu, dass ihr noch mehr esst. So entsteht ein Teufelskreis, den es zu durchbrechen gilt.

Anstatt euch für das Essverhalten zu verteufeln, solltet ihr im ersten Schritt lernen, es anzunehmen und sogar zu würdigen, denn dieses Verhalten hat euch schon ganz oft geholfen, euch besser zu fühlen. Zu der Zeit, als ihr dieses Verhalten gelernt habt, wusstest ihr noch nicht, welche Auswirkungen das irgendwann auf euer Leben haben könnte. Damals war das Essen einfach die einzige Möglichkeit für euch, euren Gefühlszustand zu verbessern. Aus dieser Not heraus ist über die Jahre dann eine unterbewusste Gewohnheit entstanden.

Schritt für Schritt

Heute ist es an der Zeit, diese Gewohnheiten ins Bewusstsein zu rufen und neu zu reflektieren. Allein die Tatsache, dass ihr diesen Artikel lest, zeigt, dass ihr bereit und offen für neue Ansätze seid. Damit seid ihr schon erfolgreich den ersten Schritt gegangen. Im zweiten Schritt sollten wir nun gemeinsam den Kern eures Essverhaltens angehen. Um das zu tun, ist es zunächst einmal wichtig, herauszufinden welche Zusatzfunktion das Essen für euch persönlich erfüllt. Um das herauszufinden, ist das Führen eines Ernährungstagebuches sehr hilfreich. Wichtig ist, dass ihr nicht nur notiert, was ihr esst, sondern auch, wie es euch in diesem Moment geht. Durch das Aufschreiben ruft ihr euch bisher unbewusste Verhaltensmuster ins Bewusstsein und deckt damit unliebsame Gewohnheiten und Entscheidungsprozesse auf.

Lernt neue Methoden kennen, um mit euern Gefühlen umzugehen

Wenn eine Kerze die einzige Möglichkeit wäre, im Dunkeln zu sehen, würdet ihr sehr wahrscheinlich um nichts in der Welt auf eure Kerze verzichten wollen. Wenn ihr jedoch eines Tages feststellen würdet, dass es Glühbirnen gibt und das diese noch viel heller und viel länger leuchten als eine Kerze, dann würde es euch wahrscheinlich viel leichter fallen, auf eure Kerze zu verzichten.

Genauso verhält es sich mit eurem Essverhalten. Habt ihr erstmal verstanden, was ihr mit dem Essen eigentlich bezwecken möchtet, wird es euch viel leichter fallen, neue Methoden zu entdecken, um mit euren Emotionen in Zukunft anders umzugehen. Es gibt immer mehrere Methoden, um dasselbe Ergebnis zu erzielen. Entscheidend ist, dass ihr für euch die passende herausfindet. In meinen Coachings gehe ich die Thematik immer von zwei Seiten an. Zum einen ergründe ich mit meinen Klienten, woher die negativen Emotionen in ihrem Leben kommen und was sie tun können, um diese grundsätzlich zu reduzieren. Zum anderen lernen sie neue Strategien kennen, mit ihren Emotionen umzugehen.

Gerne könnt ihr einmal folgende Übung machen.

Nehmt euch einen Stift und ein Blatt Papier und brainstormt mindestens zehn Alternativen, die die gleiche Absicht befriedigen wie euer Essverhalten. Also zum Beispiel, wenn ihr aus Langeweile esst, dann überlegt euch zehn Möglichkeiten, wie ihr euch anstelle des Essens beschäftigen könnt. z. B. vor dem Fernseher häkeln, zuckerfreie Lollis lutschen, einen Tee trinken, erst gar kein Fernsehen schauen, ein Buch lesen, einen Power-Nap machen, euch mit Freunden treffen etc. Wenn ihr aus Trauer/Frust esst, dann überlegt euch zehn Möglichkeiten, was ihr anstelle von Essen tun könnt, um euch zu trösten oder um euren Frust abzubauen, z. B. eine Freundin anrufen, Musik hören, spazieren gehen, Sport machen, eine Liste schreiben für was ihr dankbar seid, jemandem verzeihen, erforschen, was an der Situation gut sein könnte und was ihr daraus lernen könntet etc.

Wenn ihr euch mit dem Essen belohnt, dann überlegt euch, wie ihr euch noch belohnen könnt, z. B. mit mehr Schlaf, einem schönen Buch, Wellness, Treffen mit Freunden, spazieren gehen, Kosmetik etc. Wenn ihr aus Stress esst, dann überlegt euch zum einen, wie ihr anders mit dem Stress umgehen könnt, und zum anderen, wie ihr ihn reduzieren könnt, z. B. bessere Zeitplanung, Sachen nicht aufschieben, sondern sofort erledigen, auch mal Nein sagen etc., Sport, Atemübungen, Meditieren, mehr Schlaf. Das sind natürlich alles nur Beispiele. Findet Zugang zu eurer Kreativität und brainstormt eure ganz eigenen Alternativen. Für das Brainstormen ist es wirklich sehr wichtig, dass ihr die Dinge aufschreibt. Wenn ihr eure Liste am Ende fertig habt, sucht ihr euch einmal eine Alternative aus und versucht diese drei Wochen lang anstelle des Essens aus.

Warum drei Wochen? Weil ein psychologisches Gesetz besagt, dass es mindestens drei Wochen benötigt, um neue Gewohnheiten zu installieren. Sobald nämlich euer neues Verhalten eine Gewohnheit ist, wird es euch deutlich leichter fallen, es anstelle des Essens auszuführen.

Fazit

Emotionales Essen ist oft der Grund dafür, dass Abnehmen so schwerfällt. Solltet ihr spüren, dass ihr auch zu den Emotionalen-Essern gehört, dann würde ich euch empfehlen, das Ernährungstagebuch zu führen und den Selbsttest zu machen, um die genaue Ursache zu ergründen. Sobald ihr eure Ursache kennt, nutzt eure Kreativität, um euch selbst das zu geben, was ihr eigentlich in Momenten, in denen ihr über euren körperlichen Hunger hinaus esst, benötigt.

Die Gastautorin

Die Gastautorin

Julia Sahm ist Life Coach und Heilpraktikerin für Psychotherapie. Sie hat sich mit ihrem Coaching-Unternehmen Shine auf Gewichtsprobleme spezialisiert. Unter dem Namen LIFESTYLE SCHLANK bietet sie eine ganzheitliche Coaching-Methode an, die an der Ursache von Übergewicht ansetzt. So wird das Gewichtsziel nicht künstlich durch einen straffen Diätplan erreicht, sondern durch inneres authentisches Gesundwerden.

Webseite: shinecoaching.de/
Julias Buch: Lifestyle Schlank! Selbstcoaching statt Diät
Podcast: shinecoaching.de/podcast/
Selbsttest: shinecoaching.de/typentest/